Wozu denn das Ganze? Warum der Spatz in der Hand glücklich macht

Ein Gespräch mit Sandra Danicke

von Daniel Fehr
21. Dezember 2023

Frau Danicke, in der aktuellen Ausstellung «Perfectly Imperfect. Makel, Mankos und Defekte» im Gewerbemuseum Winterthur werden auch Bilder aus Ihrem Buch «Für immer – Leben mit Provisorien» gezeigt. Was ist das für ein Buch?
In dem Buch habe ich Fotos von Provisorien zusammengetragen. Viele davon habe ich selbst gemacht. Mir wurden aber auch viele geschickt: von Freunden und von Menschen, die ich nicht kenne, die von meiner Sammlung erfahren haben.

Was ist denn ein Provisorium?
Eine vorläufige Lösung für ein akut auftretendes Problem. Ein gerissener Rollladengurt zum Beispiel. Man löst dieses Problem mit Dingen, die man zur Hand hat, indem man etwas zweckentfremdet oder etwas zusammenbastelt. Aus Material, das leicht verfügbar ist. Man geht dafür nicht in den Baumarkt, sondern nimmt, was gerade zur Hand ist. Oft sind es Probleme, für die es gar keine standardmässigen Lösungen gibt, wie das Absaugen von Blattläusen auf Topfpflanzen.

Haben Sie noch mehr Beispiele?
Dutzende. Manche Probleme kennt jeder: Ein zu kurzes Stuhl- oder Tischbein, unter das man einen Bierfilz klemmt oder eine Erdnussdose, die als Aschenbecher dient. In anderen Fällen ist es komplexer. Unheimlich viele Leute haben offenbar das Problem, dass ihr Backofen nicht richtig schliesst. Dafür gibt es bei Amazon kein Produkt, welches das Problem sinnvoll löst. Deswegen habe viele Menschen ihre eigenen Lösungen gefunden. Zum Beispiel klemmen sie Dinge zwischen Kühlschrank und Backofen, um den Backofen zuzudrücken. Das kann ein Besen sein, ein Pfannenwender oder ein Krückstock. Oft sind es zwei Dinge gleichzeitig, weil ein einziges nicht die richtige Länge hat

Sind diese Provisorien auch eine Form von Reparatur?
Das ist einer der tollen Aspekte dieser Provisorien: Sie sind nachhaltig. Anstatt die Sachen wegzuschmeissen, sieht man erst einmal, ob es eine andere Lösung gibt. Heute kann man etwa beim chinesischen Onlinehändler Temu alles billig kaufen. Die Provisorien erzählen da eine andere Geschichte. Insofern ist mein Buch auch ein Plädoyer für Nachhaltigkeit. Aber nicht nur das. Die Fotos sind auch Dokumente der Kreativität.

© Sandra Danicke
© Sandra Danicke

Inwiefern?
Hinter den Provisorien stehen Menschen, die erst einmal nachdenken. Die haben ein Problem und überlegen sich, wie sie das lösen könnten. Es sind Menschen, die improvisieren können – und dies führt oft zu fantastischen Lösungen. Einer älteren Dame war zum Beispiel ihr Sofa zu niedrig. Sie konnte nicht mehr so leicht aufstehen. Sie nahm darum vier Marmeladengläser und hat die Füsse des Sofas in diese Gläser gestellt. Dadurch war das Sofa etwas höher. Ein älterer Herr hatte das Problem, dass sein Mülleimer unter dem Schreibtisch immer so weit nach hinten geschoben wurde, so dass er nicht mehr drankam. Da hat er eine Leine daran befestigt.

Das Provisorische tut den Zweck, aber es ist qua Definition nicht auf Dauer angelegt. Warum haben Provisorien trotzdem eine Tendenz zu bleiben?
Das ist ganz oft so. Wenn die Sachen funktionieren, ist der Drang, etwas zu ändern, weg. Dazu kommt, dass Menschen, die sich mit Provisorien abgeben, es nicht perfekt haben wollen. Sonst würden sie gleich was Neues kaufen oder einen Fachmann rufen. Sie können damit leben, dass nicht alles im Leben perfekt ist. Wenn Provisorien gut funktionieren, warum sollte man sie ändern?

Diese Einstellung passt gut zum Thema «perfectly imperfect». Liegt darin auch Ihr Interesse an diesen Provisorien?
Diese Grundeinstellung finde ich fantastisch. Dass man sagt: Ich lebe jetzt. Ich warte nicht, bis das Leben ideal ist. Ich warte nicht darauf, bis ich mir die super Küchenmaschine leisten kann oder im Lotto gewinne oder der perfekte Partner vorbeikommt. Ich habe den sprichwörtlichen Spatzen in der Hand und damit gehe ich um. Das Leben findet jetzt statt und nicht irgendwann im Konjunktiv.

Biografie
Dr. Sandra Danicke wurde 1968 in Frankfurt am Main geboren und studierte dort Kunstgeschichte. Ihre Texte über Kunst und Alltag sind in zahlreichen Kulturmagazinen, Tages-, Wochenzeitungen und Büchern erschienen. Aktuell ist sie Redakteurin beim deutschen Kunstmagazin Art. Sie lebt in Frankfurt am Main.
Sandra Danicke bei VFMK

Was sind das für Menschen, die sich mit Provisorien umgeben?
Häufig entstehen solche Provisorien an Orten oder in Zeiten des Mangels. Dann, wenn es nicht anders geht. Wenn das Geld fehlt. Oder man nur beschränkte Mittel hat, etwa auf Reisen. Doch diese Provisorien werden auch von Leuten gemacht, die gerne basteln. Oder von Leuten, die von ihren Grosseltern oder Eltern noch mitkriegten, dass man Probleme selbst löst.

Warum lassen Menschen ihre Provisorien Ihnen zukommen?
Ich glaube, die Menschen, die mir Fotos von ihren Provisorien schicken, sind auch stolz auf ihre Arbeiten. Durch meine Sammlung mache ich ihnen ausserdem bewusst, dass sie etwas Großartiges erfunden haben. Viele Leute begannen erst durch meine Sammlung sich in ihrer Wohnung umzusehen und merkten, wie viel bei ihnen selbst da ist. Sie erkennen bei sich selbst eine Kreativität.

Welche Provisorien gibt es in Ihrem eigenen Alltag?
Wir wohnen in einem Altbau und die Fußböden sind nicht eben. Bei Tischen müssen wir Dinge darunter klemmen, damit sie nicht wackeln. Ganz lange hatten wir einen Besteck-Abtropfhalter, der aus einer halben Milchtüte bestand, in die wir unten Löcher gebohrt hatten. Bei uns gibt’s immer was. Ganz im Gegensatz zu meinem Elternhaus.

© Sandra Danicke
© Sandra Danicke

Keine Provisorien im Elternhaus?
Genau, bei uns zu Hause gab es nie Provisorien. Vielleicht hat es damit zu tun, dass mein Vater sehr früh aus der DDR geflohen ist und es dort wenig gab, so dass er Unperfektes im neuen Leben vermeiden wollte. Aber das ist jetzt spekuliert. Bei mir musste jedenfalls erst eine Entwicklung stattfinden: Von der Idee, dass Provisorien gar nicht gehen hin zu der Erkenntnis, dass sie einen eigenen Charme haben.

Sie sind Kunsthistorikerin und haben zu mittelalterlicher Kirchengestaltung promoviert. Welche Verbindungen gibt es da zu Ihrer Sammelleidenschaft von allzu Alltäglichem wie den Provisorien?
Die Schnittmenge ist groß, aber weniger zu den mittelalterlichen Kirchen, sondern zur zeitgenössischen Kunst. Viele Künstler:innen definieren sich nicht über perfekt ausgeführte Arbeiten, sondern sie arbeiten mit dem Charme des Unperfekten.

In Ihrem neusten Buch beschäftigen Sie sich mit Material, das Künstler:innen heute verwenden, um Kunst zu machen.
Dabei geht es nicht um klassische Materialen wie Ölfarbe oder Marmor. Besonders daran ist, dass Künstler:innen, die nicht mit klassischen Materialen arbeiten, zu Materialexpert:innen werden müssen. Mike Bouchet arbeitet zum Beispiel mit Gelatine. Im Grunde ist es dieselbe Gelatine wie in Gummibärchen, doch für die Werke wollte er eine Variante, die sich nicht zersetzt. Er musste ein unperfektes Material so weiterentwickeln, dass es für seine Kunst verwendbar wird.

Das schliesst schön den Bogen zum Ausstellungsthema: das Unperfekte perfektionieren.
Das ist wie bei den Provisorien. Es entsteht nicht am Reißbrett, sondern man hat ein Problem und löst es praktisch.

Welche perfekt-unperfekte Kunst hat Sie besonders beeindruckt?
Jürgen Krause, den ich für das Buch interviewt habe, zeichnet Karopapier. Kariertes Papier wie man es auch fertig im Laden kaufen kann. Doch er macht es selbst. Und doch sieht es aus wie das Gekaufte. Er hat viele Jahre darauf verwendet, eine Technik zu entwickeln, diese Papiere so zu zeichnen. Und das nötigt mir Respekt ab. Es ist etwas, wo man vielleicht fragt: Wozu denn das Ganze? Das verweist aber auch auf uns, auf unsere eigene Arbeit, auf unser eigenes Leben. Viele von uns sitzen den ganzen Tag im Büro, und da könnte man auch fragen: Wozu denn das Ganze?

Im Museum
Aktuell sind von Sandra Danicke gesammelte Provisorien in der Ausstellung «Perfectly Imperfect. Makel, Mankos und Defekte» in Winterthur zu sehen.
23. November 2023 - 12. Mai 2024 Gewerbemuseum Winterthur
Zur Ausstellung