Foto © Linus Bill (Ausschnitt)
Foto © Linus Bill (Ausschnitt)

«Nicht jeder tolle Zufall ist ein gutes Design.»

Ein Gespräch mit Jörg Boner

von Daniel Fehr
21. Dezember 2023

Herr Boner, Sie entwerfen Möbel, Leuchten und Gebrauchsgegenstände. Wenn ich mir Ihre Produkte ansehe, ist der Gedanke von «Imperfektion» für mich weit weg. Ganz im Gegenteil: Ich sehe Schönheit und Eleganz in der Erscheinung. Welche Rolle spielt Perfektion bei Ihrem Design?
Eine grosse, vor allem auch eine Perfektion in der Ästhetik. Ästhetik finde ich etwas das unterschätzt ist. Etwas, das auch in Verruf kam. Und weil wir Ästhetik immer weniger beurteilen können, bleibt uns oft nur noch die Moral als Kriterium. Gerade in der Schweiz gibt es oft den Vorwurf, dass ein Objekt einfach nur schön ist und nicht mehr. Aber Ästhetik ist ja viel mehr als vermeintlich schön geformte Teile, die in teuren Wohnungen rumstehen. Schönheit und Perfektion stehen in einem viel komplexeren Verhältnis zueinander. Perfekt kann es auch sein, wenn es irritiert, Fragen aufwirft oder wenn es genau die richtige Patina hat. Das ist auch etwas, das mich sehr interessiert: wie Objekte altern.

Denken Sie bei Ihren Designs das Altern mit?
Ich kann das Altern nicht vorneweg nehmen. Aber ich muss als Designer die Behauptung aufstellen können, dass meine Objekte gut in der Zeit altern. Ich spreche hier vor allem von Formalem: von Material- oder von Farbentscheiden.

Wann ist ein Objekt für Sie perfekt gealtert?
Wenn es immer noch gut anmutet. Oder wenn es ein Objekt seiner Zeit ist: Zwar ist die Zeit für diese Art der Gestaltung vorbei, aber es hatte damals seine volle Berechtigung. Etwas Tolles aus den achtziger Jahren würde man heute zwar nicht mehr so machen, aber man spürt im Objekt den Geist aus den Achtzigern. Es bleibt schön.

Sie sprachen eben von «Anmut». Was verstehen Sie darunter?
Der Begrifft der Anmut ist für mich ein sehr wichtiges Wort. Das löst den Blick auf Designobjekte vom Begriff des «Schönseins». Für mich müssen gestaltete Objekte eine gewisse Tiefe haben. Sie müssen mich faszinieren, mich interessieren. Material muss sorgfältig eingesetzt sein. Das versuche ich bei meinen Designs zu erreichen.

 

Juppa © Foto: Studio Jörg Boner
Juppa © Foto: Studio Jörg Boner

Wann bekommt ein Designobjekt eine Tiefe?
Entgegen dem, was ich gerade gesagt habe: Wenn nicht immer alles perfekt ist. Oder anders gesagt, wenn Objekte unerwartete Wendungen haben. Wie ein schönes Gesicht nie symmetrisch ist, braucht es auch bei Designobjekten etwas, das irritiert. Bei meinen Objekten gibt es oft Dinge, bei denen ich selbst immer noch unsicher bin, ob ich sie gestalterisch richtig entschieden habe.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Für das Atelier Pfister habe ich den Stuhl «Juppa» entworfen. Wenn man den Stuhl von vorne betrachtet, sieht man zwei Holme, die gerade abgeschnitten sind. Dieses abrupte Ende kann auch stören, kann Missfallen erregen. Das sind solche Gestaltungselemente, die es in all meinen Arbeiten drin hat und bei denen ich mir selbst die Frage stelle, ob ich so weit gehen darf. Beim Juppa stelle ich sie mir immer noch, nachdem der Stuhl schon lange im Verkauf ist.

Gehen Sie später wieder zurück und ändern Ihre Entscheidung, wenn Sie die Chance dazu haben?
Das bleibt bei mir theoretisch. Es gibt den Gedanken vielleicht, dass wenn ich nochmals die Chance hätte, würde ich… doch als Designer gebe ich die Objekte auch ab. Wenn ich für eine Firma arbeite oder für eine Kollektion, dann übergebe ich den Entwurf irgendwann zur Ausführung. Das Objekt muss dann ohne mich auskommen.

Biografie
Jörg Boner
Biografie
Jörg Boner (*1968 in Uster) lebt und arbeitet in Zürich. Seit seinem Abschluss im Jahr 1996 an der damaligen «Schule für Gestaltung» in Basel entwickelte er ein vielfältiges Spektrum von Produkten, Leuchten und Möbeln. Er lehrte nebst seiner Tätigkeit als Designer in den Jahren 2003 bis 2014 an der ECAL in Lausanne. Einige der Arbeiten von Jörg Boner sind in den Sammlungen des Centre Georges Pompidou/ Paris, des Victoria & Albert Museum/ London und des Museum für Gestaltung/ Zürich vertreten. Im Jahre 2011 ehrte ihn die Schweizerische Eidgenossenschaft mit dem Schweizer Grand Prix Design.
Jörg Boner

Sie haben sich eben selbst als verletzlich und unsicher in den Entscheidungen gezeigt. Für mich sind Sie aber auch ein Designer mit einem hohen Gestaltungswillen. Bei Ihren Produkten scheint es keinen Zufall zu geben. Täuscht dieser Eindruck?
Im fertigen Produkt mag es so scheinen. In der Entwicklung gibt es aber sehr viel Zufall. Der Entwurfsprozess per se ist nicht linear. Im Gewerbemuseum Winterthur ist in der Ausstellung ein Kartonmodell von mir ausgestellt. Im originalgrossen Modell wird für mich mein Objekt das erste Mal sichtbar. Es hat eine eigene Persönlichkeit, die sich nicht vorwegnehmen lässt.

Wie muss ich mir Ihren Designprozess vorstellen?
Erst braucht es eine Idee. Diese steht aber in einem Zusammenhang: von Dingen, die ich gesehen habe, die bereits existieren. Der erste Bruch geschieht bereits beim Zeichnen. Dinge, die ich im Kopf habe, sehen beim Zeichnen anders aus oder ich kann sie nicht so zeichnen, wie ich sie im Kopf habe.

Wie geht es nach der Zeichnung weiter?
Wenn ein grobes Konzept da ist, geht es an den Computer. Dort zeichne ich oder meine Mitarbeiter:innen das Objekt dreidimensional. Danach gibt es einen etwas anachronistischen Prozess: Die 3D-Computerzeichnung wird, wie bei einem Schnittmuster, auf Flächen ausgerollt und diese Flächen werden aus Graukarton ausgeschnitten. Daraus bauen wir von Hand das Modell. Und das ist das Verrückte: In dem Moment, wo man Karton zusammenklebt, fühlt man sich ausserhalb des wirtschaftlichen Systems. Man wird zum Bastler, der in den Tag hineinbastelt und dabei Radio hört.

Juppa © Foto: Atelierpfister
Juppa © Foto: Atelierpfister

Und dann sehen Sie die Idee das erste Mal als vor sich.
Genau. Doch das, was ich vorher im Kopf hatte, zeigt sich im Modell ganz anders. Anders als es in der Computerzeichnung aussah, anders als es in meinem Kopf war, anders als es auf der Handzeichnung wirkte. Wie bei einer Reise: Vorher haben wir Bilder im Kopf und vor Ort ist es nochmals ganz anders. Wenn ich bei der Analogie bleibe: Jetzt sind wir im fremden Land. Jetzt beginnen wir zu reagieren, auf das was da ist. Wir beginnen herumzufahren, wir nehmen Kontakt auf. Das hat aber nichts mehr mit dem zu tun, was wir uns vor der Reise vorgestellt haben.

Bei Ihnen sehen sogar die Modelle «perfekt» aus.
Ein Kartonmodell hat etwas extrem Perfektes, weil ihm eine saubere Computer-3D-Zeichnung zugrunde liegt. Gleichzeitig ist der Karton ein billiges Material. Das Kartonmodell ist für mich eine Mischung aus «perfekt» und «unperfekt». Es ist ein Geistwesen, das zwischen der Idee und dem Fertigen steht. Es ist schon da, aber es ist noch nichts.

Gibt es bei Ihnen auch Fehler, die produktiv werden oder ist alles Teil des Designprozesses?
Es gibt vor allem viele Zufälle. Ich baue ein Modell und sehe etwas, das mich auf etwas anderes bringt. Wenn ich etwas im Modell falsch zusammenleime, kann mich das auf neue Wege bringen.

Im Design, das zeigt auch die Ausstellung «Perfectly Imperfect» im Gewerbemuseum Winterthur, gibt es auch Tendenzen zum Ungehobelten, zum Spiel mit Makeln, mit Fehlern, mit Patina. Wie stehen Sie dazu?
Nicht jeder tolle Zufall ist ein gutes Design. Notdürftige Reparaturen finde ich zum Bespiel genial. Aber nur solange sie aus dem Leben heraus entstehen. Flickwerk nachzubilden und als Design zu titulieren, ist nicht meine Welt. Das ist ein Romantisieren. Wenn ich auf einem Bierharass sitze und das mein Lieblingsstuhl ist, dann kommt das aus einer Geschichte heraus. Wenn ich aber als Designer aus einem Bierharass ein Stuhl mache, dann zwinge ich jemandem eine sehr individualisierte Geschichte auf.

Im Museum
Aktuell sind Arbeiten von Jörg Boner in der Ausstellung «Perfectly Imperfect. Makel, Mankos und Defekte» in Winterthur zu sehen.
23. November 2023 - 12. Mai 2024 Gewerbemuseum Winterthur
Zur Ausstellung

Ihre Haltung ex negativo; wie lautet sie positiv formuliert?
Ich will als Designer universeller sein, in dem was ich tue. Mir ist es lieber, Leute kleben ein Polster an die Rücklehne von einem von mir designten Stuhl, als dass ich es mache. Ich will nicht basteln. Wenn ich so tue, als ob ich es in der Alphütte gemacht hätte, dann zwinge ich den Menschen etwas auf.

Mitten in anderen Objekten gibt es eine handgefertigte Leiter von Ihnen, die in einer Alphütte gemacht sein könnte. Eine Leiter aus wurmstichigem Lärchenholz, das Sie auf Wanderungen gefunden haben. Dieses Objekt ist jedoch nicht für den Möbelmarkt gemacht, sondern für die Galerie. Ist das für Sie der Rahmen, um «Ungehobeltes» zuzulassen: die Kunst?
Die Leiter ist erstmal aus gefundenem Material, Ästen aus dem Wald, gebaut. Sie ist eine radikale Abkehr der Warenproduktion mit Materialien, die erstmal angefertigt werden mussten. Selbst die Form konnte nicht im Vorfeld definiert werden. Sie ist aus Fundstücken gebaut und entworfen. Sie ist ein Übungsstück für mich. Vielleicht werden wir dereinst Wege finden direkter mit nachwachsenden Materialien umzugehen. Bis wir soweit sind, gilt es zu üben. Vor allem die Ästhetik solcher Dinge möchte ich kennenlernen.