Manchmal ist das Unperfekte aufwändiger als das Perfekte

Ein Gespräch mit Regula Bührer Fecker

von Daniel Fehr
23. November 2023

Frau Bührer, verschiedene zeitgenössische Werbekampagnen machen seit ein paar Jahren Werbung mit dem unperfekten Leben. Ich denke etwa an jene von Galaxus «Wir haben die Produkte, du das Leben!». Die Werbung zeigt Produkte im Setting des Alltagslebens statt im perfekten Hochglanzleben. Woher kommt dieser Trend?
Bei Galaxus stand am Anfang wohl der Gedanke, dass Leute der Werbung nicht mehr glauben. Werbung geniesst bei vielen einen zunehmend zweifelhaften Ruf. Und trotzdem müssen Produkte beworben werden, möchten Firmen Bekanntheit aufbauen, ihre Reputation pflegen. Eine Möglichkeit, mit diesem Wiederspruch umzugehen, ist, die Werbung bewusst anders, neu zu machen. Zum Beispiel authentischer, realer, näher am Leben. So wird die Werbung trotz Werbung als sympathisch empfunden. Das treibt Galaxus hier auf die Spitze: Sie zeigen das ungeschönte, echte Leben.

Wie viel Mühe kostet es die Werbenden, das ungeschönte Leben zu zeigen?
Bei der Produktion unterscheidet sich diese «authentische» Werbung nicht von anderer Werbung. Auch hier gibt es Make-up, Styling, Models, Schauspielende, Einrichter und so weiter. Eine Werbung, die das authentische Leben zeigt, ist genauso aufwändig wie eine Werbung, die das perfekte Leben zeigt. Manchmal ist es sogar aufwändiger, unperfekte Werbewelten zu kreieren. Zum Beispiel muss ich, wenn ich besondere Vorstellungen habe, länger nach einem passenden Model suchen. Denn Model-Datenbanken sind immer noch eher mit erwartbaren Typen bestückt.

Der Onlineshop Digitec, der zur selben Firma wie Galaxus gehört, ging vor ein paar Jahren einen Schritt weiter. Es bewarb Produkte mit Kundenrezensionen, teils auch negativen.
Auch diese Form der Werbung steht für mich unter den Stichwörtern Authentizität und Ehrlichkeit. Digitec hat hier einen spannenden Weg gefunden, ehrlich zu werben. Indem sie mit dem werben, was die Leute wirklich über Produkte sagen, schaffen sie Authentizität. Vielleicht wirft eine solche ehrliche Kundenrezension auf das einzelne Produkt nicht das beste Licht, doch für die Marke «Digitec» bringt es einen positiven Effekt. Es vermittelt den Leuten das Gefühl: Denen kann ich vertrauen.

Beides sind Onlineshops, die keine eigenen Produkte haben. Funktioniert das Spiel mit dem «perfekt Unperfekten» hier besonders gut, weil man sich als ehrliche Plattform präsentieren kann und es dem Shop letztlich egal ist, welche Produkte er verkauft?
Es gibt auch viele Brands, etwa im Fashion-Bereich, welche ihre eigenen Produkte möglichst authentisch verkaufen wollen. Es handelt sich hier um einen Mega-Trend in der Werbung und der Kommunikation.

Seit wann gibt es diesen Trend?
Der Trend hin zur Authentizität ist mindestens zehn Jahre alt. Was neuer ist, ist der Trend zu mehr Realität in der Umsetzung. In der Mode beobachte ich dies, doch auch in anderen Werbebereichen versucht man die Produkte realitätsnäher zu zeigen.

Biografie
Regula Bührer Fecker ist eine Schweizer Werberin. Sie ist Werbestrategin und Mitbegründerin der Zürcher Werbeagentur Rod Kommunikation. Regula Bührer Fecker wurde 2010 und 2014 zur Werberin des Jahres ausgezeichnet. Sie ist Verwaltungsrätin von mehreren Firmen und Organisationen und hat ein Buch namens «#FRAUENARBEIT» geschrieben.
Rod Kommunikation

Woher kommt der Trend zur realistischeren Werbung?
Das hat vor allem mit der Werbegewöhnung von uns zu tun. Wir als Konsumenten und Konsumentinnen haben ein gewisses Misstrauen gegenüber Werbung entwickelt. Wir mögen es nicht, wenn uns etwas verkauft wird, das nicht stimmt. Ich habe heute zum Beispiel ein neues Müsli gekauft. Auf der Packung waren neben dem Schälchen mit dem Müsli auch Bananen und Heidelbeeren abgebildet. Meine kleine Tochter glaubte, dass diese auch in der Packung stecken. Ich musste ihr erklären, dass diese nur auf dem Foto sind, um das Produkt zu bewerben. Ich selbst habe mich schon lange daran gewöhnt – wie die meisten Menschen. Viele Firmen wollen aber genau diese etablierte Fallhöhe zwischen Werbeversprechen und realem Produkt verringern.

Durchdringt der Trend zu mehr Authentizität und Realität alle Bereiche der Werbung?
Es gibt viele Bereiche, bei denen nach klassischer Perfektion gestrebt wird. Etwa in den Bereichen Mode oder Beauty, aber auch in Bereichen Getränke und Food ist es nach meiner Meinung noch ein weiter Weg bis zu mehr Realitätsnähe.

Haben Sie ein Beispiel?
In der Food-Fotografie gibt es neuerdings den Anspruch: Alles, was fotografiert wird, muss gegessen werden können. Lange war dies nicht der Fall. Es wurde mit Tricks gearbeitet. Man präparierte für ein ansprechendes Foto das Essen mit giftiger Farbe oder Haarspray. So glänzte es schön. Der neue Anspruch ist zwar gut, aber nicht einfach einzulösen. Denn ohne Tricks sieht es oft auch weniger ansprechend aus und es stellt sich die Frage, ob es die Leute dann noch bestellen, wenn es so aussieht, wie es aussieht.

Wie ist dies bei Ihnen in der Agentur?
Food-Werbung machen wir relativ wenig. Aber ich kann ein Bespiel von Werbung mit Menschen machen. Im Zentrum steht die Frage: Wie fallen wir auf? Wir sehen uns zuerst um, was die Konkurrenz macht, und dann versuchen wir es anders zu machen. Das kann zum Beispiel sein, dass wir andere Menschen zeigen. Zum Beispiel ein älterer Herr mit langen Haaren oder jemand der sonst «ungesehen» ist in der Kommunikation.

Bei Kampagnen, die Sie zum Beispiel für die SBB oder die ZKB umsetzten, sehe ich etwa den braungebrannten Mittfünfziger mit weissem Dreitagebart oder die verschmitzt-rüstige Oma. Keine besonders ungesehenen Typen.
Natürlich hängt es auch immer von Kunden und seinen Zielgruppen ab. Ein Beispiel ist das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Sie haben klar die Vorstellung: Zeigt uns nicht nur die junge, hübsche, schlanke Schweiz; zeigt uns die Schweiz. Ich persönlich finde alles gut, das öffnet und die Welt mehr zeigt, wie sie ist.

Wo liegt der Sweetspot von «perfectly imperfect» zu einfach nur «imperfect» bei Werbung?
Mir ist es wichtig, nicht zu lügen. Nichts zu verkaufen, das so nicht ist. Aber in Massen aufhübschen darf man. Am liebsten habe ich als Werberin Produkte, die gut sind und bei denen ich keine falschen Versprechen machen muss.

Im Museum
Die Ausstellung «Perfectly Imperfect. Makel, Mankos und Defekte» ist aktuell in Winterthur zu sehen.
23. November 2023 - 12. Mai 2024 Gewerbemuseum Winterthur
Zur Ausstellung

Wann hört für Sie in der Werbung der Spass mit dem Unfertigen und Unpassenden auf?
Zum Authentischsein gehört echte Authentizität. Wenn ich zum Beispiel herausfinden würde, dass die Digitec-Kundenrezensionen gar nicht von echten Konsumenten und Konsumentinnen stammen, sondern von einem Werbetexter, der sich das ausgedacht hat, dann wäre ich recht enttäuscht.

Um nochmals auf das Ausstellungsthema zurückzukommen: Gibt es bei Ihren Kreativprozessen auch Fehler oder Mankos, aus denen gute Werbung entsteht?
Dies kann bei allen Momenten des Kreativprozesses passieren: beim Konzepten, beim Texten, beim Gestalten, beim Fotografieren, beim Filmen, beim Musikkomponieren. Es gibt immer die Möglichkeit, nicht «das Perfekte» zu wählen. Das hat auch viel mit Erfahrung zu tun, da noch einen Schritt weiterzugehen.

Ist Ihnen dies schon passiert?
Oft passiert es beim Werbefilm. Man plant alles ganz genau und dann sieht man das Resultat und merkt: viel zu lang, viel zu kompliziert. Der Schnitt muss dann korrigieren, was man falsch plante.

Arbeiten Sie in Ihrer Agentur manchmal auch ganz bewusst mit dem Unperfekten?
Für das BAG haben wir während Corona einen Solidaritätsspot gemacht, wo wir gar nicht anders konnten als ihn unperfekt zu machen. Verschiedene Prominente nahmen ein Statement auf, zum Beispiel Alain Berset oder Roger Federer. Doch wir konnten wegen den damaligen Corona-Bedingungen keine Filmcrew zu ihnen schicken. Die Promis filmten also selbst. So, wie es gerade kam. Einmal hoch, einmal quer. Wir mussten dann mit dem Material arbeiten, das wir bekamen. Da war viel «unperfektes» Material dabei. Trotzdem haben wir es geschafft, mit diesem Material etwas zu kreieren, das Menschen berührte. Manchmal ist das Unperfekte eben genau richtig.