«Imperfektion ist eine Form von Luxus»

Ein Gespräch mit Adrien Rovero

von Daniel Fehr
23. November 2023

Herr Rovero, Sie arbeiten als Industriedesigner und entwerfen Möbel und Leuchten für renommierte Marken wie Hermès oder Pfister. Welche Rolle spielen Perfektion oder Imperfektion heute im Produktdesign?
Wenn man sich das Handwerk vor der Industrialisierung anschaut, war es selbstverständlich, dass ein Produkt einzigartig ist. Kein Stück war genau gleich wie das andere. Heute, in der Zeit der Industrialisierung und Standardisierung, ist das nicht mehr erwünscht. Heute erwarten wir von Produkten ein bestimmtes Aussehen, eine bestimmte Qualität und einen bestimmten Standard. Und wenn das Produkt diesen Standards nicht entspricht, nennen wir es «unperfekt».

Mit anderen Worten: Die Rolle von Perfektion/Imperfektion ist eine Frage der Produktion?
Perfektion hat viel mit industriellen Produktionsprozessen zu tun. Aber selbst dann, wenn einige Elemente von Hand hergestellt werden, erwarten wir oft einen gewissen Standard. Der Stuhlhersteller Horgen Glarus zum Beispiel stellt aus produktionstechnischen Gründen einige Elemente eines Stuhls von Hand her, aber die Arbeiter sind so geschickt, dass man die Unterschiede nicht sieht. Doch die meisten Massenproduktionen enthalten gar keine Handarbeit mehr. Die Firma Mattiazzi stellt ebenfalls Holzprodukte her. Aber sie arbeiten hauptsächlich mit Hightech-Robotern. So können sie garantieren, dass ihre Produkte immer gleich aussehen.

Ist also die Zeit der Imperfektion im Produktdesign vorbei?
Es gibt einen Trend, der uns zurück zum Handwerk führt. Das hängt vor allem mit unserer Wahrnehmung von den globalen Produktionsbedingungen zusammen. Wir fragen uns vermehrt, wo und von wem ein Produkt hergestellt wird und suchen wieder mehr nach dem Lokalen und Handgemachten. Und mit diesem Trend zum Handwerk kommt auch die Frage der Unvollkommenheit wieder stärker an die Oberfläche. Vor allem, wenn man mit natürlichen Materialien arbeitet.

Biografie
Adrien Rovero
Biografie
Adrien Rovero wurde 1981 geboren und hat einen Master in Industriedesign von der ECAL/Hochschule für Kunst und Design Lausanne. Seine Arbeit basiert auf seiner scharfen Beobachtung der Details und Bedürfnisse seiner Umgebung. Dies inspiriert ihn zu höchst einfallsreichen Entwürfen, die ebenso schlicht wie wirkungsvoll sind und ein formales Vokabular umfassen, das sich aus Assemblage, Wiederverwendung und Verschiebung von Formen, Materialien, Referenzen und Zwecken zusammensetzt.
Adrien Rovero

Denn natürliche Materialien sind nicht immer gleich.
Genau, wenn man zum Beispiel mit Leder oder Holz arbeitet oder Teppiche färbt, bekommt man nie genau die gleiche Struktur. Selbst in einer industriellen Produktion. Mit dem neuen Interesse am Handwerk und an natürlichen Materialien kommt also die Möglichkeit der Imperfektion zurück. Gleichzeitig ist der Wunsch nach standardisierter Perfektion nach wie vor dominant. Es amüsiert mich zum Beispiel immer wieder, wenn man auf Produktmustern aus Holz die Warnung sieht, dass das Endprodukt möglicherweise nicht so aussieht wie das Muster. Es gibt sogar eine Firma, die versucht, dagegen vorzugehen.

Wie das?
Das Unternehmen heisst Alpi. Sie stellen Furniere her, dünne Blätter aus Holz, die traditionell durch verschiedene Säge- und Schneideverfahren vom Stamm abgetrennt werden. Doch die Firma macht das anders. Sie stellt das Holz für ihre Furniere selbst her: Sie nehmen Holz, zerkleinern es und kleben es wieder zusammen. Mit diesem Verfahren können sie das Aussehen und die Struktur des Holzes kontrollieren. Bei ihrer Furnierherstellung wird also nicht ein echter Baum in dünne Holzscheiben geschnitten, sondern ein fabrikmässig hergestellter Holzblock. Sie haben ein natürliches Material in ein Material verwandelt, das sie kontrollieren und an einem Qualitätsstandard messen können.

Das natürliche Material ist also eher störend in der industriellen, standardisierten Produktion?
Zumindest kann man in der Massenproduktion nur bis zu einem gewissen Grad auf das Material eingehen. Eine Firma, die Lederprodukte herstellt, schneidet zum Beispiel ihre Schnitte industriell. Das bedeutet aber auch, dass sie schnell entscheiden müssen, ob das Leder ihren Qualitätsstandards genügt. Wenn das Material nicht den Standards genügt, wird es «Abfall». Es lohnt sich für die Firma nicht einmal diese Abfallteile nach Brauchbarem zu durchsuchen. Ich hatte die Gelegenheit in diesem Bereich für eine Produktlinie von Hermès zu arbeiten: Für die Linie «petit h» verwendeten wir Reste aus der Produktion. Imperfektion ist damit auch eine Form von Luxus.

Inwiefern ist Imperfektion eine Form von Luxus?
Es ist kostspielig auf das Material einzugehen. Die Arbeit mit unvollkommenem Material braucht mehr Zeit. Nehmen Sie zum Beispiel «Freitag». Freitag stellt Taschen aus gebrauchten Lastwagenblachen her. Um aus diesem Material ein Designprodukt zu machen, braucht es Zeit. Und was besonders viel Zeit in Anspruch nimmt, ist die Entscheidung, wie man das Schnittmuster auf die Blachen legt. Ihre Produkte sind schön, weil sie sich diese Zeit nehmen. Sich Zeit nehmen, um auszuwählen, ist eine Form von Luxus. Es braucht Zeit, um das Imperfekte zu perfektionieren.

Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen dem «Imperfekten» und «Fehlern»?
Für mich ist ein «Fehler» etwas, das man nicht will, etwas das die Funktion des Produkts beeinträchtigt. Bei einer «Imperfektion» funktioniert das Objekt immer noch.

Das wirft die Frage auf: Gibt es Raum für Imperfektion ausserhalb der Ästhetik? Gibt es eine «perfectly imperfect function» oder kann nur die Form «perfectly imperfect» sein?
Im Designprozess können Funktionsfehler zu neuen Entdeckungen führen. So ist zum Beispiel der «Bold Chair» von Big Game entstanden. Der Stuhl besteht aus zwei dicken Rohren. Doch diese beiden Rohre waren ursprünglich ein Modellierungsfehler. Der Designer wollte eigentlich kleinere Rohre. Doch dann entstanden diese und er merkte, diese dicken Rohre selbsttragend sind und man sie als Stuhl verwenden kann. Wobei das eigentlich auch eher etwas Ästhetisches ist. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass sich das «perfekt Unperfekte» eher auf ästhetisches bezieht?

Gibt es für Sie auch ein Zuviel an Imperfektion? Oder anders gefragt: Wie entscheiden Sie bei Ihrer eigenen Arbeit als Designer, was noch im Bereich des «perfekt Unperfekten» liegt und was schlicht unperfekt ist?
Sehr oft arbeiten wir mit Protokollen. Ich hatte zum Beispiel eine Leuchte aus Glas für Galerie Kreo entworfen. Diese ging in limitierter Auflage in eine kleine Serienproduktion. Es waren nur dreissig Stück und trotzdem sollten sie «einheitlich» aussehen. Um sicherzustellen, dass die Form der Serie einheitlich ist, haben wir mit einer Form gearbeitet. Trotzdem sind die fertigen Produkte nie ganz identisch, denn sie sind alle mundgeblasen. Dadurch ist die Farbe immer etwas anders, auch die Materialdicke ist nie gleich, und im Inneren des Glases können sich Blasen bilden. Deshalb haben wir ein Protokoll erstellt, was noch in Ordnung ist und was nicht. Wir haben zum Beispiel festgelegt, dass es nicht mehr als drei Blasen geben darf und dass die Dicke überall zwischen sechs und acht Millimetern liegen sollte.

Was zu viel Imperfektion ist und was noch «perfectly imperfect» ist also eine Designentscheidung?
Nicht nur. Auch der Endkunde hat ein Wörtchen mitzureden. Seine Vorstellungen spielen eine grosse Rolle bei der Frage, was perfekt oder eben «perfectly imperfect» ist. Wir können zwar sagen, dass wir streng nach dem Protokoll produziert haben und alle Leuchten der Serie unserem Qualitätsstandard entsprechen, doch wir haben nicht da letzte Wort. Der Endkunde entscheidet, ob er das Produkt noch für «perfekt» hält. Sehr oft ist der Endverbraucher nicht ausreichend geschult, um einen gewissen Grad an Zufälligkeit und Imperfektion zu akzeptieren.

Die Akzeptanz von Imperfektion als Perfektion ist also auch eine Frage der Bildung des Verbrauchers?
Auf jeden Fall.

Im Museum
«Perfectly Imperfect. Makel, Mankos und Defekte»
23. November 2023 – 12. Mai 2024 Gewerbemuseum Winterthur
Zur Ausstellung