Ein Licht im Wald © Raphaël Kolly

Das Buch ist das Original

Ein Gespräch mit Raphaël Kolly

von Daniel Fehr
24. Juni 2022

Du hast letztes Jahr dein erstes Bilderbuch veröffentlicht: «Ein Licht im Wald». Um was geht es im Buch?

Es geht um ein Kaninchen, das auf dem Feld spielt und sich in seinem Spiel verliert. Es merkt nicht einmal, dass es in den Wald läuft und es dunkel wird. Plötzlich ist es Nacht. Verloren in der Dunkelheit entdeckt es ein Stück Licht, das die Sonne im Wald vergessen hat. Das Kaninchen sammelt das Licht ein und findet mit ihm den Weg durch die Nacht. Dabei trifft es auf andere Tiere, die auch gerne etwas von diesem Licht wollen. Es teilt das Licht mit ihnen, doch durch das Teilen wird sein Licht immer weniger.

Was stand am Beginn dieses Buches?

Von Anfang an ging es um das Haptische: Das Licht in die Hände nehmen können. Das Licht als etwas, das man weitergeben kann.

Das Licht war also dein erster Protagonist?

Zusammen mit dem Kaninchen. Die Beziehung zwischen dem Kaninchen und dem Licht war für mich der Beginn dieser Geschichte. Ich näherte mich durch meine Zeichnungen dem Kaninchen an. Ich habe mich bewusst erst einmal nicht damit beschäftigt, wie die Geschichte endet. Sondern ich fragte mich, was passiert mit diesem Licht, das das Kaninchen findet? Wie reagiert es auf das Licht? Und was fühlt es, wenn es das Licht findet und was, wenn das Licht durch das Teilen und Weggeben wieder kleiner wird?

Du hast auch mit Modellen gearbeitet. Eines davon ist im Moment im Gewerbemuseum Winterthur ausgestellt.

Ich machte Papiermodelle vom Wald, um ein räumliches Gefühl vom Wald und den Lichtstimmungen zu bekommen. Zudem stellte ich mir eine Bilderbuchseite wie einen Guckkasten vor: als Bühne. Wie bei einem Papiertheatermodell.

Wird schon schiefgehen, Ente! © Raphaël Kolly

Neben dem Licht spielt in deinem Buch die Dunkelheit eine zentrale Rolle. Ohne die Dunkelheit würde das Licht im Wald nicht diese Leuchtkraft haben.

Besonders wichtig ist die dritte Doppelseite, die fast ganz schwarz ist. Einige Betrachter:innen empfinden es sogar als richtig unangenehm, dass dort so viel Schwarz ist. Und es stimmt schon: So viel Leerraum wirkt rein optisch drückend. Das Gefühl der Angst und der Dunkelheit wird durch die grosse, rein schwarze Fläche visuell nochmals verstärkt und auf die Betrachter:innen übertragen. Damit sie trotzdem nicht schnell weiterblättern brauchte es einen Kniff.

Welchen?

Ich habe auf dieser Doppelseite bewusst viel Text platziert, weil ich nicht wollte, dass die Eltern schnell weiterblättern, weil sie denken, es gäbe hier nicht viel zu sehen. Weil es auf der Seite viel Text zum Vorlesen hat, ist man gezwungen, auf dieser dunklen Doppelseite zu verweilen.

Du beschreibst die Dunkelheit als Leerraum. Ich lese das Schwarz aber gerade auch als Möglichkeitsraum.

Das ist es auch: Die Nacht ist auch eine Projektionsfläche für die Fantasie. Wenn ich als Kind Angst hatte von der Dunkelheit hatte ich eigentlich nicht Angst von der Dunkelheit, sondern vor den Dingen, die ich in der Dunkelheit vermutete. Die Nacht lässt sich mit dem eigenen Geist erforschen, ganz ohne Licht. Dies ist aber zugleich der Ursprung der Angst.

Eine Figur, die kein Licht braucht, ist der alte Hase.

Der alte Hase ist für das kleine Kaninchen eine Figur, die zeigt, wie es selbst sein oder werden könnte. Es ist eine Figur, die schon so viel gesehen hat im Leben. Sie kennt den Wald. Sie braucht das Licht nicht, um sich in der Nacht zurechtzufinden. Sie kann die Fantasie und die damit verbundene Angst annehmen, ohne zu werten.

Bildergalerie
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Ein Bild entsteht! So arbeitet Raphaël Kolly.
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Storyboard © Raphaël Kolly
Dummy © Raphaël Kolly
Vorzeichnung © Raphaël Kolly
Reinzeichnung © Raphaël Kolly
Kolorierung © Raphaël Kolly

Springen wir zu deiner Technik. Wie entsteht bei dir ein Bild?

Ich habe eine Grobskizze, dann eine erste Vorzeichnung, die etwas präziser ist, meistens nochmals eine Vorzeichnung. Danach kommt die Reinzeichnung über die Vorzeichnung. Alles mit Bleistift. Ich zeichne auch immer wieder neu. Ich kann nicht einfach den Linien nachfahren. Die Zeichnungen würden sonst ihre Lebendigkeit verlieren. Diese Reinzeichnung scanne ich ein und koloriere am Computer. Ich lege die Farben in der Regel unter die Zeichnung.

Das heisst, vom fertigen, kolorierten Bild gibt es kein «Original».

Alle, die das Buch in den Händen haben, besitzen das Original. Jedes Buch ist das Original. Darum ist mir auch die Druckqualität eines Bilderbuchs extrem wichtig. Wie wirken die Farben? Welches Papier wird verwendet? Denn ich kann nicht einfach sagen: Immerhin ist mein Bild zu Hause in der Schublade toll. Nein, das Buch muss toll sein, denn das Buch ist das Original.

Du hast zusammen mit mir im Anschluss an dein erstes Buch ein zweites gemacht: «Wird schon schiefgehen, Ente!». Was ist für dich der Unterschied zwischen einer eigenen Geschichte und der Geschichte eines anderen Autors?

Die Reihenfolge ist anders. Bei meinem eigenen Buch begann ich mit dem zeichnerischen Suchen der Geschichte und entwickelte daraus den Text.

© Raphaël Kolly

Hier stand der Text schon.

Ich muss mir den Text so weit aneignen, dass ich das Gefühl habe, ich hätte die Geschichte selbst geschrieben. Bei fremden Geschichten lese ich den Text jeweils ganz genau durch, bis ich ihn selbst nachempfinde. Wichtig ist für mich, dass ich den Text wirklich verstehe, sonst könnte ich ihn nicht umsetzen. Meine Aufgabe als Illustrator ist dann, mir zu überlegen, wie die Bewegung der Geschichte ist, wie die Figuren aussehen, was zwischen dem Blättern passiert. Ich muss in der Zeichnung die Idee weitertreiben.

Zum Beispiel?

Bei «Wird schon schiefgehen, Ente!» war zum Beispiel der Charakter der Ente fix, aber ich konnte ihn visuell weiterentwickeln. Was für Kleider trägt eine solch unsichere Figur? Warnwesten in Leuchtfarben? Hier kann ich mich als Illustrator einbringen.

Neben den Büchern für Kinder, machst du Comics. Du hast fast mehr Comics gemacht als Bilderbücher – wo siehst du dich eher?

Für mich gibt es hier weniger einen Unterschied. Das ist für das Marketing vielleicht wichtig. Für mich sind das aber einfach alles Geschichten.

Du bist auch Verleger. Mit dem Cornercollective veröffentlichst du Zines und Comics. Und mit der Comic-Zeichnerin Leonie Rösler hast du das Buch «Illustrators Against Extinction» herausgegeben.

Das Cornercollective stammt aus der Studienzeit an der Hochschule in Luzern. Wir hatten zu dritt unseren Atelierplatz in einer Ecke und daraus entstand die Zusammenarbeit. Mit dem Cornercollecitve machen wir vor allem kleine, zwölfseitige Büchlein. Wir haben aber auch zwei längere Comics gemacht: «Leben, Arbeiten, Sterben im Mittelalter» und «Medea». Wir verkaufen die Büchlein an Comic-Festivals und im Web.

Gibt es eine Klammer, um all die verschiedenen Dinge?

Es freut mich immer eine Linie zu machen. Eine Spur auf dem Papier. Das interessiert mich: dynamische Linien, gerade Linien, undynamische Linien. Ich hoffe, es ist meine Persönlichkeit, die den roten Faden ergibt.